FASZINATION
Klavierphilosophie
Faszination Klavier und Klangästhetik

„Üben ist eine zielgerichtete Betätigung, die dem Erwerb, der Verfeinerung und dem Erhalt sensomotorischer, auditiver, visueller, struktureller und emotionaler Repräsentationen von Musik dient.“ (Altenmüller 2006, S. 47) Mit diesen Definitionen fasst der namhafte Musikermediziner und Hirnforscher die verschiedenen Dimensionen von Musikereignissen zusammen:
  • Die Tonerzeugung und das Üben am Musikinstrument.
  • Die klangliche, visuelle und physiologische Kontrolle.
  • Die Reflexion über das Produzierte und die sich gleichzeitig äußernde emotionale Beteiligung.

Was passiert beim Klavieranschlag?

Betrachtet man zunächst den Vorgang des Klanggeschehens unter dem Aspekt der Tonerzeugung eines einzelnen Klaviertons, so ergibt sich in etwa das Folgende:
Eine Taste wird angeschlagen. Welch unschönes Wort! Der Franzose spricht vom „toucher“, also dem Berühren der Tasten. Der „Anschlag“ bzw. das „toucher“ steht für ein Universum an Tonerzeugungsarten, die eher das Einpflegen des Fingers in den Tastengrund meinen als das Schlagen/Anschlagen einer Taste. Durch das Bewegen der Klaviertaste in den Tastengrund wird der Klavierhammer in Richtung Saitenbespannung in Bewegung gesetzt. Die Flügelmechanik hebt die Dämpfer hoch, befreit also die Saiten aus ihrem ansonsten stets gedämpften Zustand; zeitgleich schlägt der Hammerkopf die ein- bis dreichörige Saitenbespannung eines einzigen Klaviertones an, der nunmehr ungedämpft schwingen und somit erklingen kann. Eine sanft berührte Taste wird den Klavierhammer mit geringer Geschwindigkeit in Richtung Saiten befördern. Dieser Klang wird somit sanft, warm, indirekt, gar leicht vernebelt erscheinen. Eine mit rascher Attacke ausgeführte Anschlagsbewegung wird den Hammer mit hoher Geschwindigkeit an die Saiten werfen, was zu einem großen, stolzen, heroischen Klangbild führen wird. Zwischen diesen beiden extrem auseinander liegenden Anschlagsarten gibt es unzählige weitere Varianten der Tonerzeugung, die sich in Dynamik und Klangfarbe unterscheiden. „Er (der Finger) wird sich mit der Taste 'eins' fühlen und sie also nicht schlagen, sondern fühlend niederdrücken“. (Hirzel-Langenhan 1964/2018, S. 9)
Dieser Vorgang der Tonerzeugung vollzieht sich während des Klavierspiels nicht nur mit einem Finger, sondern in der Regel mit mehreren Fingern beinahe gleichzeitig, durchaus auch in höchst rascher Abfolge. Bei hohem Tempo werden je Sekunde in einer einzelnen Stimme über zehn Töne erzeugt. Diese vielen Töne werden keineswegs immer in der gleichen Anschlagsart ausgeführt. Üblicherweise wird einer der Töne als Melodieton eine tragende Rolle spielen; er wird mit Intensität, Wärme und auch in einer gewissen Größe hervorzuheben sein, wird also etwas erhaben, leicht durchdringend klingen (z.B. Chopin: Etüde As-Dur op. 25 Nr. 1). Um diesen Melodieton sich rankende  Spielfiguren werden sanft, wenn auch durchaus in flinker Abfolge zu spielen sein. Das geschieht indirekt, unaufdringlich, bisweilen gar luftig, also innerhalb der Abfolge der vielen Begleittöne wiederum zu jedem der anderen Begleittöne je nach Absicht des Interpreten leicht getrennt - eben luftig (z.B. Mendelssohn-Bartholdy: Rondo capriccioso op. 14, Takte 82-90). Nicht jeder Ton schließt also direkt an den nächsten Ton an (legato), sondern steht einen ganz kurzen Moment solitär im Klangraum (non legato), oder aber diese Begleittöne sind gar nur kürzest gestreift, verursachen also zum nächsten Begleitton eine relativ große Lücke (staccato bzw. leggiero staccato) (z.B. Mendelssohn-Bartholdy: Variations sérieuses op. 54, Variation 13).


Mit Hand und Fuß – das rechte Pedal

Das Klavierspielen geschieht normalerweise mit beiden Händen gleichzeitig, was den Anspruch des Geschilderten erhöht; es vermehrt gleichzeitig die Fähigkeiten der Handkoordination des Spielers. Wie wenn das nicht genug wäre, setzt der fortgeschrittene Klavierspieler darüber hinaus die drei Pedale durch die Betätigung beider Füße ein. Auch hier ist das „Pedaltreten“ die übliche, jedoch in der Alltagssprache recht lieblos wirkende Ausdrucksweise. Ähnlich wie beim „Klavieranschlag“ wird der versierte Klavierspieler in höchst sensibler Weise die Pedale, insbesondere das rechte Pedal (Tonhaltepedal) einsetzen. Durch die Betätigung dieses rechten Pedals lösen sich alle Dämpfer von den Klaviersaiten, so daß Töne nach dem Loslassen der Tasten weiterklingen. Auf diese Weise lassen sich Akkordtrauben übereinander türmen, die deutlich mehr und auch weit auseinander liegende Töne in einen gleichzeitigen Klang einspeisen, den die menschlichen Hände auf einmal anzuschlagen nicht in der Lage wären (z.B. Rachmaninoff: Prélude op. 3 Nr. 2). Ein in sensibler Weise getretenes rechtes Pedal gibt dem Klavierspiel eine weitere Komponente des Legato-Spiels bis hin zu vermeintlichen Glissando-Effekten (z.B. Liszt: Ballade h-Moll, Takte 172 bis 210). Eine andere Möglichkeit des Pedaleinsatzes besteht in der synchronen Betätigung von Hand und Fuß, also dem Tastenanschlag und dem zeitgleichen Treten des Pedals. Der Effekt ist ein wuchtiger, großer, fulminanter Klang, der zugleich in sich artikuliert erscheint.
Das Pedal ist hervorragend geeignet, klangliche Absichten umzusetzen. Es verflüssigt gleichsam akustisch Gegebenes, ist als Farbmittel einzusetzen, suggeriert aber auch, der Flügel werde größer bzw. ein mäßig klingender Konzertsaal bekomme nunmehr ansehnliche akustische Qualitäten. Die Einsatzmöglichkeiten des Pedals sind vielfältig bis raffiniert. Auf die beiden anderen Klavierpedale soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden; sie bergen weitere Möglichkeiten pianistischer Klanggestaltung.


Klavierspiel und Gehirn


Daß der pianistischen Betätigung weitere hochkomplizierte Vorgänge unter neurologisch-anatomischen Gesichtspunkten vorausgehen, bis es überhaupt zu einem einzigen Klavieranschlag kommt, ist ein Wunder der Natur und läßt schlicht staunen. Jeder Fingerbewegung geht eine absichtliche Planung im Gehirn voraus. Die Absicht der Bewegung eines Fingers hat im Gehirn ihren Ursprung. Über das Rückenmark und die Nervenbahnen führt der Bewegungsimpuls vom Gehirn zur Muskulatur. Von dort aus ist die Umsetzung und Ausführung der Klangerzeugung ein vermeintlich kurzer Weg, der allerdings in einen ständigen Dialog zwischen der aktuellen Statusmeldung und der inneren Diskussion über etwaige Korrekturerfordernisse als entsprechende Rückmeldung mündet. Diese Rückmeldung ist vielschichtig und geschieht
  • auditiv über den erzeugten Klang, also durch das permanente Hören und Sich-Zuhören.
  • durch die Notenlesekompetenz, aber besonders durch hochsensibel geschultes Sehen und Zu-Sehen bei der Tonerzeugung; zudem durch das Beobachten der Rückwärtsbewegung, also dem Hochgehen der Tasten und die gleichzeitige Wahrnehmung des Klangs.
  • somatosensorisch, also durch die bewußte Wahrnehmung der Sinneseindrücke über die Haut und der des Bewegungsapparates sowie der (unbewußten) Funktionalität motorischer und vegetativer Regelkreise.
Somit spielen hier die Zusammenhänge von Muskeln und Nerven ebenso wie sensomotorische Vorgänge hinein, die sich - konkret(!) - in der direkten Rückkoppelung zwischen der Tastenberührung, der ständigen Überprüfung der klanglichen Ergebnisse und permanenter hochsensibler Zwischenkorrekturen ergeben.
Diese stete Rückkopplung zwischen der Klangerzeugung und der ständigen Rückmeldung an das Gehör, gepaart mit hundertfacher Korrektur von Tonerzeugung geschieht in ununterbrochener Abfolge; x - mal je Sekunde. Durch diese permanenten Kontrollvorgänge entsteht die erforderliche Balance, die eine stimmige Durchführung des Klavierspiels gewährleistet.


Nach dem Klang ist vor dem Klang


Die Abnahme eines Klanges bedeutet in der Regel gleichzeitig die Vorbereitung der Erzeugung des nächsten Tastenanschlags. Das Wie des Wegnehmens des vorherigen Klanges dient gleichsam als Sprungbrett für die Formung des nächsten Klanges. Sollte auf einen erzeugten Klang eine Pause folgen, ist auch hier die Abnahme des Klanges für die Sinnhaftigkeit der musikalischen, gelebten Pause innerhalb ihres musikalischen Kontextes ebenso erforderlich. Die pianistischen Abläufe sind im Sinne einer Echtzeit-Kontrolle gedanklich nachvollziehbar und können somit zuverlässig, mit vollem Bewußtsein und punktgenau ausgeführt werden. Diese Echtzeit-Kontrolle sollte möglich sein bei bis zu 6 Anschlägen je Sekunde. Bei mehr als 6 Anschlägen je Sekunde wird der Pianist intuitiv die beabsichtigte Tonfolge spielen, wird also intuitiv auf die in langsamem Tempo eingeübten Muster zurückgreifen, unter der Gefahr der Abnutzung der Präzision bei häufiger Wiederholung gleicher Vorgänge. Gleichzeitig erfährt der Klavierspieler die sich erweiternden Grenzen und damit den Grat von bewußt durchgeführtem Klavierspiel bis hin zum inneren Loslassen, das nicht mehr die absolute Kontrolle im Höchsttempo beliebig oft hintereinander zuläßt – eine Grenzerfahrung. Es greift somit intuitiv ein Mechanismus, der vorübergehend funktioniert, im Regelfall aber immer und immer wieder in einem langsameren Tempo geübt werden muß, um das Tonabfolge-Management auch im Höchsttempo präzise abrufen zu können.

Diese kleine Tonerzeugungsphilosophie, die Faszination für das Klavier-Ureigene, aber auch der Sinn für die physiologischen Gegebenheiten beschreiben die Komplexität pädagogischer Vorgänge. Im Klavierunterricht wird bei der Musikvermittlung nicht ein Übergewicht neuro-physiologischer Vorgänge entstehen. Ebenso würde der Verzicht auf die neuro-physiologischen Gegebenheiten im Unterricht eine Qualitätsverkürzung darstellen, da sich die physiologischen Vorgänge direkt auf die Musik und die Interpretation auswirken. Immer wird es um die Musik, um die Klangästhetik, den musikalischen Ausdruck und seine Wirkung gehen, der die physiologischen Bedingungen und Erkenntnisse dienbar gemacht werden.

R.H.


Literatur:
Altenmüller, Eckart (2006): Hirnphysiologische Grundlagen des Übens. In: Mahlert, Ulrich (Hg.): Handbuch Üben. Grundlagen – Konzepte – Methoden. Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, S. 47-66.
Hirzel-Langenhan, Anna (1964/2018): Greifen und Begreifen. Ein Weg zur Anschlagskultur. Kassel: Bärenreiter